„Ich wollte doch nur meinen Vater besuchen!“

Mit dieser verzweifelten Begründung musste sich nicht nur Rainer Dellmuth vor dem diktatorischen SED-Regime in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik rechtfertigen, als er verhaftet wurde. Eine für uns heute absurde Vorstellung, seine Familie oder Angehörige nicht besuchen zu dürfen. Jedoch für viele Bürger der ehemaligen DDR bis zum Fall der Mauer 1989 bittere Realität. Viele jedoch, die sich nicht mit der Bestimmung zufrieden geben wollten, versuchten gegen dieses Unrecht im eigenen Lande anzukämpfen. Republikflucht war strafbar und wenn der Fluchtversuch misslang, landeten die „ Täter“ in den Gefängnissen der Staatssicherheit der DDR.
Erst nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR kam die reine Wahrheit über die Zustände und Methoden in den Gefängnissen ans Tageslicht.
Um uns mit der grausamen Realität, die zu dieser Zeit herrschte vertraut zu machen, fuhren wir als Geschichtsleistungskurs am 29.11.2006 zur “Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen“.
Weil uns die Funktionen und Zustände in dem Stasigefängnis nicht geläufig waren, baten wir schon im Vorfeld um einen Zeitzeugen.
Zu Beginn sahen wir ein sogenanntes „Einstiegsvideo“. Danach stellt sich unser Zeitzeuge vor, der alles persönlich erklären sollte. Ein kleiner, schmächtig gebauter, älterer Mann, namens Rainer Dellmuth. Er eröffnete seine Darstellung mit den Worten: „.und ik bin, wie ihr hört, ne echte Berliner-Bulette!“.
Herr Dellmuth, ein Mensch, dem man seine schrecklichen Erlebnisse in der Vergangenheit nicht ansehen könnte. Selbst in den ersten Gesprächen konnte man kaum bemerken, welche psychischen Lasten noch heute auf ihm liegen.

Doch wir gingen mit großen Erwartungen in den Tag und wir wussten, welcher Respekt von uns erwartet wurde. Das fiel es uns umso schwerer, als wir mit dem krassen Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten, konfrontiert wurden. Herr Dellmuth, der selbst drei Jahre in verschiedenen Gemäuern der Staatssicherheit verbracht hatte, empfing uns mit einer, für uns unverständlichen Freude und einem ausgesprochen großen Humor, wodurch womöglich viele unter uns nicht wussten, welches Verhalten nun am geeignetsten war.

Doch im Laufe des Rundganges durch die vielen Flure und Etagen wurde uns bewusst, dass seine Ironie, die schon an Zynismus grenzte, eigentlich nur eine Abwehrreaktion gegen die psychischen Belastungen sein konnte.
Er begründete dann später auch sein Verhalten als Schutzfunktion gegen seine Folgekrankheit aus der Haftzeit als „Posttraumatische Verhaltensstörung“.
Ich denke, uns wurde klar, dass diese Krankheit unumgänglich war. Denn die Bilder, die auf uns einflogen und die grauenvollen Kommentare des Zeitzeugen lösten bei uns Erschrecken aus, das sich durch offene Münder und tränende Augen bemerkbar machte.
Schrittweise erzählte er uns seine Erlebnisse, die er in den 3 Monaten in diesem Gefängnis hatte.
Zum Beispiel erinnere ich mich noch sehr genau an die Szene, in einer vier Quadratmeter großen Zelle, in der acht Jungs von unserer Gruppe eintreten mussten. Wir sollten mit eigenen Augen begreifen, welche Folter dies für die damaligen Männer bedeutete. Die fehlende Hygiene, kaum Nahrungsmittel und die stickige Luft machte es den Inhaftierten zunehmend schwerer.
Nach einer Zeit erzählte er, dass der Grund für seine Inhaftierung „ungesetzliche Grenzüberschreitung“ mit wiederholter Ausführung war. Denn bei seiner ersten Verhaftung im Alter von 18 Jahren wurde er zu einem Jahr verurteilt, welches, so wie Dellmuth beschrieb, nur auf vermeintlichen „erzieherischen Hintergründen“ beruhte.

In den Augen der Staatsanwaltschaft war er ein Gegner der Regierung und wurde somit als „Gefahr“ systematisch weggesperrt.
Bei seiner zweiten Verhaftung allerdings verlief alles schlimmer, als bei der ersten im Jahre 1967. Diesmal wurde R. Dellmuth zu zwei Jahren verurteilt, da er wiederholt vorhatte in die Bundesrepublik Deutschland zu flüchten. Bei der Festnahme war er bereits 23 Jahre alt und somit volljährig, was die Sachlage und das Strafmaß verschlimmerte.
„Heute kannst´de nach Dänemark gehen oder Kiwis putzen!“ ließ Rainer Dellmuth nicht nur einmal ganz nebenbei aus sich rausplatzen.

Er machte uns allen klar, was wir eigentlich wenig zu schätzen wussten. Er saß für etwas, was für uns doch total normal ist. Man möchte sich gar nicht vorstellen, einen Ausreiseantrag einzureichen, um Oma und Opa in Bayern zu besuchen.
Dass sich Menschen damals dagegen wehrten ist für uns heute verständlich. So wurde es umso schrecklicher, als wir die „Foltermethoden“ begriffen, die vor allem auf die Zerstörung der psychischen Gesundheit abzielten.

So durften die Inhaftierten nicht miteinander in Kontakt treten, d.h. in den Fluren oder über Räume kommunizieren. Sollte sich jedoch ein Gefangner dessen widersetzen, so folgten Strafen, wie zum Beispiel in Räumen zu sein, die entweder zu heiß, zu kalt oder einfach viel zu eng waren. Somit wurden die Inhaftierten eingeschüchtert und seelisch gebrochen.
Dieses betonte R. Dellmuth häufig bei unserem Rundgang, er versuchte uns verständlich zu machen, dass er seine Ironie und den Sarkasmus brauche, um die Geschehnisse verarbeiten zu können.
Trotz Verständnis auf unserer Seite, wussten wir doch oft nicht, welche Reaktion von uns auf seine Sprüche angemessen war. Einige lachten, manche staunten und einige wiederum blieben reaktionslos.

Was mich persönlich immer wieder beeindruckte war seine gleich bleibende Fassung, zwar keine Ruhe aber auch keine Beleidigungen oder diverse Wutausbrüche. Er sieht sich als Opfer eines ehemaligen Systems und versucht heute auf seine Art damit fertig zu werden. So ist es für ihn z.B. notwendig, dass er die Namen aller (!) ehemaligen Stasimitarbeiter recherchiert. Einige sprach er Jahre später auf der Straße oder deren Arbeitsstellen an.
Dass sein Wunsch in Erfüllung ging und er von der BRD freigekauft wurde und in den lang ersehnten Westen durfte, erzählte er uns zum Ende des Rundgangs.
Rainer Dellmuth hat geschafft, was nur wenige DDR-Bürger geschafft haben. Freiheit ist für ihn nicht nur ein fader Bergriff.

Als wir uns von Herrn R. Dellmuth verabschiedeten, gingen mir die Erlebnisse nicht mehr aus dem Kopf. Ständig flogen neue Erinnerungen in
meine Gedanken und ich versuchte zu verstehen, was mich mehr beeindruckte oder schockte.
Waren es die schrecklichen Bilder aus Folterzellen, Bunkern und Gehörtem? Oder waren es meine Eindrücke über den Mut und das Leid Rainer Dellmuths und vieler weiterer Häftlinge? Ich habe keine vollständigen Antworten gefunden.
Eines habe ich aber für mich begriffen, vielmehr das zu schätzen, was uns heute so ganz selbstverständlich freisteht.

Carolin Oertwig LK Geschichte Januar 2007